Auf Herz und Nieren prüfen

Was unsere Sprache über Shiatsu erzählt

von Monika Sperber

„Das geht mir an die Nieren“, „Gift und Galle spucken“ oder „etwas auf Herz und Nieren“ prüfen – jeder weiß, was mit diesen Redewendungen gemeint ist. Schon einmal darüber nachgedacht, woher sie kommen und was dahinter steckt? Shiatsu-Praktiker arbeiten mit diesen alten Weisheiten, die im Mittelalter in der europäischen Volksmedizin Bedeutung hatten und in der Traditionellen Chinesischen Medizin bis heute kultiviert werden. Und das mit Erfolg!

„Er hat kalte Füße bekommen“, „ihr ist es kalt über den Rücken gelaufen“ oder „der Schreck ist mir bis in die Knochen gefahren“ – und sofort wissen wir, es geht um das Thema Angst und Anspannung. Diese drei ganz unterschiedlichen Formulierungen kommen aus der gleichen Heimat – der 5-Elemente-Lehre. In der TCM wird dem Wasserelement die Emotion Angst zugeschrieben. Und das Wasserelement setzt sich wiederum aus dem Meridianpärchen Niere und Blase zusammen. Meridiane sind „Energiebahnen“ im Körper, die Organen zugeordnet werden. Auch Paracelsus sah bereits im 15. Jahrhundert in der Niere das Angstorgan und einen verwundbaren Punkt des Körpers. Nicht umsonst stieß Richard Wagners Siegfried dem Drachen das Schwert in die Nieren.

Die Niere als Energie-Sparbuch

Madame Niere fungiert nämlich als unser Energie-Sparbuch, wo alles, was wir bei unserer Geburt von den Eltern mitbekommen haben, gespeichert wurde. Zinsenfrei, versteht sich. Wer wenig am Konto hat, über seine Verhältnisse lebt, zu wenig schläft, viel Stress hat oder jahrelang überwiegend Kühlendes isst als auch gern zu tief ins Gläschen schaut, dessen Bankkonto erlebt bald eine Talfahrt. Denn die Nieren sind damit beschäftigt bei Stress Hormone abzusondern anstatt ihrer angestammten Tätigkeit nachzugehen, Bestehendes zu bewahren. Und das kostet Lebenskraft. Die Folgen können kalte Hände und Füße, Rückenschmerzen, Potenzstörungen oder ein Bandscheibenvorfall sein. Denn es geht im wahrsten Sinn des Wortes an die Nieren, also an unsere Substanz.

Die Wirbelsäule steht für Standhaftigkeit

Den Blasenmeridian, der die Rückseite des Körpers regiert, lässt das Leid seiner Partnerin Niere nicht unbeeindruckt und er zieht sich zusammen. Wir spüren dann Verspannungen entlang der Wirbelsäule, im Nacken bis hin zu dauerhaften Versteifungen. Der Blasenmeridian wird in der TCM dem Willen zugeordnet, in unserer Sprache stehen Rücken und Wirbelsäule für Standhaftigkeit. Deshalb heißt es auch „Rückgrat zeigen“ oder „einen breiten Rücken haben“ bzw. „in den Rücken fallen“.
Shiatsu, eine aus Japan stammende spezielle Form der Massage, beschäftigt sich intensiv mit den Meridianen in unserem Körper. Sind diese im Gleichgewicht, fühlen wir uns gut und energievoll. Sind sie blockiert oder haben sie zu wenig Energie, dann merken wir früher oder später, dass etwas schief läuft. Ein Shiatsu-Praktiker erkennt daher gleich bei der ersten Behandlung wie es um unsere Nieren- und Blasenenergie bestellt ist und kann vieles tun, um die angeschlagene Partnerschaft wieder ins Lot bringen.

Kühlendes Weglassen

Ohne begleitende Hausaufgabe wird es trotzdem nicht gehen. Je weniger am Konto desto mehr ist zu tun: Typgerechte, thermisch wärmende Ernährung, eine Balance zwischen Ruhe und Aktivität im Leben, genügend Schlaf und Bewegung sind – grob gesprochen – die wichtigsten To Dos. Wer beispielsweise äußere Kälte aufgrund seiner Ernährungsgewohnheiten innerer Kälte gegenüberstellt, bekommt Kälte im Doppelpack. Dass wir dann frieren, ist nicht verwunderlich. Und auch die Immunität sagt danke und flieht in den Urlaub. Deswegen macht es wenig Sinn, literweise Orangensaft zu trinken, um Erkältungen vorzubeugen. Orangen stammen aus dem Süden, ihre thermische Funktion ist es, zu kühlen und erfrischen und das tun sie auch bei uns. Wie können wir also das Feuer unserer Nieren pflegen und hüten, damit es uns Wärme, Energie und Vitalität spendet? In dem wir weglassen, was uns kühlt, wie beispielsweise Tiefkühlkost, Rohkost, Smoothies, Joghurt, Milch, Topfen, Kaffee, kalte Getränke oder zuviel Salz.

Wenn wir Haare lassen, geht’s uns an die Nieren

Auch Knochen, Haare und Zähne gehören zum Familienclan des Wasserelements. Probleme und Leiden, wie etwa Osteoporose, Knieschmerzen oder Haarausfall, sind oft auf fehlende oder nachlassende Nierenenergie zurück zu führen. Auch dieses Wissen manifestiert sich sprachlich mit Redewendungen wie „der Schreck ist mir in die Knochen gefahren“, „Haare lassen“, „keine grauen Haare wachsen lassen“ oder „auf dem Zahnfleisch gehen“, die ganz klar auf die Kappe des Wassers gehen.

Das explosive „Gspann“ Leber und Galle

Die sprachliche Spurensuche macht unweigerlich auch beim nächsten Meridianpärchen Leber und Galle halt. „Mir geht die Galle über“, „Mir ist eine Laus über die Leber gelaufen“ oder „gallig“ sein. Jeder weiß: Solchen Zeitgenossen geht man lieber großräumig aus dem Weg. Das explosive Gespann steht für das Element Holz und ist mit seiner ungestümen Frühlingsenergie in Sachen Tempo und Umsetzung von Nichts und Niemandem zu schlagen. Das Holzelement verkörpert die dem Menschen innewohnende Sehnsucht nach persönlicher und geistiger Weiterentwicklung. Wird dieses Potential blockiert, entstehen Wut und Aggression. Shiatsu-Praktiker sprechen von blockiertem Holz.
Die Redewendungen, die erhalten geblieben sind, zeigen diese negative Seite. Um etwas umzusetzen und durchzusetzen, braucht es aber auch eine kräftige Portion Aggression im positivsten Sinne. Aber wen wundert’s, wenn man sich den grantelnden Wiener a la Qualtinger oder den raunzigen Österreicher ansieht, da wird beim täglichen „hätt i, war i, wann i…“ nur wenig ausgelebt, statt dessen aber fleißig Frust gesammelt. Viel da, nichts davon gelebt. Das Holz wird brüchig. Die Folgen reichen von einer hohen Körperspannung bis über Bewegungseinschränkungen in Hüfte oder Schultern bis zu prämenstruellen Beschwerden.
Wer einmal seine stagnierte Leber- und Gallenenergie in die begabten Hände eines Shiatsu-Praktikers gelegt hat und im Anschluss auf der Mariahilfer Straße Bäume zum Ausreißen gesucht hat, weiß, dass es wenig Vergleichbares gibt. Da kann einiges in Bewegung kommen und so mancher lernt auf einmal „frei von der Leber zu sprechen“.

Das Herz auf der Zunge tragen

Der Ausspruch „Wer sein Herz ausschütten kann, dem wird die Galle nicht überlaufen“ führt uns zum Organ, das wohl in jedem Kulturkreis der Liebe zugeordnet wird. Und wie könnte es anders sein – das Herz wird in der TCM dem Feuerelement zugeordnet. Das heißt vereinfacht: Sommer, Strahlen, Kommunikation ohne Ende, Leidenschaft, Party… Und weil es sich mit dem Herzen allein schlecht sprechen lässt und das Herz zum Ausschütten Gesellschaft braucht, gehören auch Hände und Zunge zu diesem sich verausgabendem Element. Das hört sich dann so an: „Es kommt vom Herzen“, „sein Herz auf der Zunge tragen“, „Hand aufs Herz“.
Die Tiefe des Herzens kommt auch beim Energieschichten-Modell zum Ausdruck, wo Herz und Nieren der tief liegenden Energieschicht Shao Yin zugeordnet und damit zu Zwillingsschwestern gemacht werden. Und so schließt sich der Kreis: Nicht umsonst sagt man bei uns „auf Herz und Nieren prüfen“, wenn man einer Sache ganz genau auf dem Grund gehen will.